Eduardo Ascensão

© Ana Cruz

Eduardo Ascensão
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„Der Prozess der Umsiedlung galt als weiteres Beispiel für die urbane Segregation, der Schwarze Einwander*innen in postkolonialer Zeit unterworfen waren.”

Interview: MARTA LANÇA

Welche Räume würden Sie als Erinnerungsorte des Kolonialen im Großraum Lissabon wählen?

 

Es ist schwer, Orte zu nennen, die mit dem Begriff des Kolonialen im engeren Sinne verbunden sind, denn Lissabon war überwiegend eine imperiale Stadt, in der die Spuren des Kolonialismus vorhanden sind, aber, wie in allen anderen ehemaligen imperialen Hauptstädten auch, verschleiert und gut verpackt. Daher muss man ein bisschen graben, um sie zu finden. Ich habe drei Orte ausgesucht, einen der etwas weniger offensichtlich ist als die beiden anderen. 

Zunächst einmal Quinta dos Lilases und Quinta das Conchas an der Alameda das Linhas de Torres. Das war einmal eine Villa mit einem exotischen Garten, errichtet von einem bedeutenden, aus Galicien eingewanderten Großbürger, Francisco Mantero, der sein Vermögen mit Kaffeeplantagen auf São Tomé e Príncipe gemacht hat. Dieser Ort gibt einen ersten Begriff für das Verhältnis zur Kolonialität, weil er auf die koloniale Ökonomie verweist, darauf, wie davon profitiert wurde, und weil im Garten einige exotische Stücke zu sehen sind. Ein Stück Natur also, die in einen anderen Kontext verpflanzt wurde. Der Garten könnte leicht zum Denkmal erhoben werden, da er der Stadt Lissabon gehört. 

Der zweite, offensichtlichere Ort ist die Rua do Poço dos Negros. Dort sollen seit dem 16. Jahrhundert die in Lissabon ansässigen Schwarzen begraben worden sein. Ich habe ihn auch ausgewählt, weil es dort durchgehend Schwarze Bevölkerung gab und Geschäfte und Restaurants von Personen afrikanischer Herkunft. Aber auch wegen meiner eigenen Erinnerungen, weil ich dort in einer illegalen Cachupa [einem Restaurant, wo man nachts klingeln und noch spät in der Nacht essen konnte] in der Rua do Poço dos Negros zum ersten Mal selbst [das kapverdische Gericht] Cachupa gegessen habe. In diesem Dreieck zwischen dem Anfang der Rua do Poço dos Negros und der Rua dos Poiais de São Bento könnte eine Art Gedenken der afrikanischen Präsenz in Lissabon stattfinden.

Der dritte Ort, den ich auswählen würde, ist mehr ein Bild als ein Ort, nämlich das Padrão dos Descobrimentos neben den Containern der retornados der Jahre 1974-75. Mehr als bloßer Schauplatz der Ausstellung der Portugiesischen Welt [1] (in der auch die exotisierende Repräsentation afrikanischer Dörfer u. a. nicht fehlte), ist dieses Denkmal zusammen mit den Containern ein starkes Bild für das Ende des Kolonialismus. Ein sehr armes, sehr schwaches Land, das nicht einmal in der Lage war, die Habseligkeiten derer aufzunehmen, die einmal Kolonisatoren gewesen waren. Wie in dem Roman von Dulce Maria Cardoso „Die Rückkehr“ [2] hatten die Leute nichts, wo sie sich einrichten und das unterbringen konnten, was sie in Containern aus Angola und Mosambik mitgebracht hatten. Interessant ist auch der Kontrast zwischen dem Entdeckerdenkmal als Symbol und Apologie des Imperiums und diesen Containern, die sein grausames Ende bezeugen. 

Und in Bezug auf das Lissabon der Gegenwart?

 

Interessant wäre, drei Orte der Abendunterhaltung zu nennen, in denen Erinnerungen an die interkulturelle Tradition Lissabons vor allem der 1980er und 1990er-Jahre stecken. Zum Beispiel die Diskothek „Lontra“, wo sich in den 1980er und 1990er-Jahren Afrikaner*innen und akkulturierte Portugies*innen mischten. Im Lontra war ich zum ersten Mal mit einem Cousin, der in Luanda aufgewachsen war. Es war mein erster Kontakt mit dieser Art Mischung von Leuten. Oder der Palast, in dem das B.Leza untergebracht war. Und die Bar von Zé da Guiné namens „Bebop“, eine Jazzbar, in der zwar afrikanische Kultur nicht im Mittelpunkt stand, es aber zu wichtigen und ausgezeichneten kulturellen Begegnungen kam.

Welchen Ort würden Sie wählen, um dieses Verhältnis der Stadt zur Kolonialgeschichte zu betonen und warum?

 

Der Kreisverkehr der Portas de Benfica. Das hat mit meiner Arbeit über selbsterrichtete oder informelle Siedlungen zu tun, die so genannt werden, weil sie am Rande der regulären Stadtplanung errichtet wurden. Die Verbindung zur Kolonialgeschichte ist nicht unmittelbar, weil diese Quartiere vor allem in den 1970er, 80er und 90er Jahren entstanden, also bereits in nachkolonialer Zeit. Dennoch stehen sie in enger, sogar grotesker Beziehung zum Kolonialen. Denn das postimperiale Lissabon reproduziert gewissermaßen die Urbanität des Kolonialen durch fehlenden Zugang zu Infrastrukturen und anderem. In der Vorstellung der 1980er und 1990er hieß es oft, diese Quartiere ähnelten Afrika. Aus Sicht einer urbanen Morphologie stimmt das nicht, weil diese Viertel die typischen Merkmale des Informellen aufwiesen, die auf der ganzen Welt vorkommen, nicht nur in Afrika. Aber sie waren zu einem hohen Anteil von Personen bewohnt, die aus portugiesischsprachigen afrikanischen Ländern kamen. Quinta do Mocho in Loures zum Beispiel zu 94%, Pedreira dos Húngaros in Oeiras zu 87%, Marianas in Cascais zu 74%. Diese Viertel wurden von afrikanischen Einwander*innen in Lissabon errichtet, die am Aufbau des demokratischen Portugal der 1980er und 1990er mitwirkten, oft aus einer subalternen Position heraus und in extremer Armut. Ihre in Portugal geborenen und nie woanders gewesenen Nachkommen hatten andere, blaue Ausweispapiere — Bedingungen großer Ungleichheit. 

Mein Erinnerungsort wäre also der Kreisverkehr der Portas de Benfica zur Erinnerung an die vielen informellen Siedlungen, die es dort in der Umgebung gegeben hat, mit mehr als eintausend Familien. Im Zuge des Baus der Ringautobahn CRIL wurde die Bevölkerung von dort nach Casal da Boba und Casal da Mira umgesiedelt. Dieser Prozess der Umsiedlung war ein weiteres Beispiel urbaner Segregation, der Schwarze Einwander*innen in nachkolonialer Zeit unterworfen waren. Genau dieser Umstand verweist auf koloniale Beziehungen. 

Und wie, schlagen Sie vor, sollte dieser Ort zum Gedenkort werden?

 

Im Park in der Mitte des Kreisverkehrs der Portas de Benfica könnte ein Dokumentationsszentrum eingerichtet werden, das die Geschichte dieser Stadtteile und ihrer Bewohner*innen auf partizipative Weise erzählt, indem ehemalige Bewohner*innen, die inzwischen umgesiedelt wurden, in die Erzählung dieser Geschichten einbezogen werden.

Aber neben einem Dokumentationszentrum sollte auch ein starkes und großes Zeichen für die „afrikanische Präsenz" in dem Gebiet gesetzt werden, z. B. eine Skulptur von einem angesehenen Künstler wie António Ole, das ikonisch viele Leute ansprechen könnte, die dort zu Fuß oder mit dem Auto vorbeikommen. Der Kreisverkehr ist groß, vielleicht ist sogar eine Gartengestaltung in der Mitte möglich, was diesen Zwischenraum (zwischen Lissabon und Amadora, wo Autos vorbeirasen etc.) zu einem tatsächlich erlebbaren Raum machen würde. 

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FussnoteN

[1] Die Ausstellung der Portugiesischen Welt fand 1940 im Lissabonner Stadtteil Belém statt. Ganz im Sinne der Ideologie des Estado Novo und des Diktators Salazar diente sie dazu, das Bild eines ländlichen, christlichen und multikontinentalen Portugals zu festigen. Der Ausstellung ging eine monumentale und städtebauliche Neuordnung des Westteils der Stadt voraus, die bis heute bleibende Spuren hinterlassen hat. (Anm. d. Redaktion; siehe auch https://www.re-mapping.eu/de/interviews/elsa-peralta].

[2] „O retorno“, übersetzt von Steven Uhly, Secession Verlag 2021; original 2012, Verlag Tinta-da-China. Zusammenfassung des Verlages: „1975, Luanda, die Dekolonisierung heizt Hass und Krieg an. Die weißen fliehen, und innerhalb weniger Monate kommen mehr als eine halbe Million Personen nach Portugal. Der revolutionäre Prozess (in Portugal) ist auf dem Höhepunkt, und den „Rückkehrern“ wird misstrauisch bis feindselig begegnet. Viele haben nichts, wohin sie gehen und wo sie leben könnten. Rui ist fünfzehn Jahre alt und einer von ihnen. 1974, Lissabon. Ein Jahr lang leben Rui und seine Familie in einem zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Fünfsternehotel zusammengepfercht in einem Zimmer – ein merkwürdiges Purgatorium ohne sichere Rettung, das Tag für Tag weiter herunterkommt. Die Jugend wird zu einem erschrockenen Warten auf das Erwachsenwerden: Die Erfahrung von Verzweiflung und Wut; wieder neu lieben lernen; Hoffnung erfinden. Afrika bleibt stets präsent, aber von Mal zu Mal ferner.” (Anm. Marta Lança).