António Brito Guterres

© Sofia Nunes

António Brito Guterres
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„Der Großraum Lissabon ist aufgrund seiner sozialen und geografischen Lage kolonial.“

INTERVIEW: Marta Lança, 2020

Welche Orte würden Sie auswählen, um an das koloniale Erbe im Großraum Lissabons zu erinnern?

 

Lissabon war jahrhundertelang das Zentrum des portugiesischen Kolonialreiches, weshalb sich die kolonialen Spuren unweigerlich auch, aber nicht nur, in die Gegenwartsgeschichte einschreiben. Während der letzten hundert Jahre und insbesondere zur Zeit des sogenannten Estado Novo [1] war man bestrebt, die koloniale Erzählung der Stadt nicht nur anhand von Monumenten aufrechtzuerhalten, sondern diese auf den gesamten städtischen Raum zu erweitern. 

Unter dem Motto der portugiesischen Weltausstellung von 1940 (pt. Exposição do Mundo Português), begann die urbanistische Neugestaltung der ehemaligen Gemeinde Belém, in deren Zuge eine ganze Gemeinde beseitigt, Produktionsmittel zerstört und Bewohner*innen verdrängt wurden. Nach Abbau der Ausstellungspavillons blieben einige der neuerbauten Elemente, wie etwa das Denkmal der Entdeckungen (pt. Padrão dos Descobrimentos) oder die Parkanlage Jardim da Praça do Império, der Stadt erhalten. Monumente, Statuen, museale Ausstellungsstücke und bestimmte Benennungen innerhalb der Stadt – wie die Umbenennung des Viertels der Kolonien (pt. Bairro das Colónias ) in Bairro do Ultramar (Übersee) und anschließend Bairro Praça das Novas Nações (der Platz der Neuen Nationen) – lassen leicht das koloniale Narrativ Lissabons erkennen und werden auch deshalb zu Zielen einer zeitgenössischen, dekolonialen und gegen die Barbarei gerichteten Kritik. Die eigentliche Wahrheit über dieses Narrativ ist jedoch viel dichter und komplizierter. 

Betrachtet man etwa die Straßennamen des Viertels Penha da França im Lissabon der 1950er Jahre, fällt auf, dass diese von Militärmitgliedern und bedeutenden Akteuren der portugiesischen Kolonialpolitik in Afrika (in Portugal auch bekannt als Die Afrikanisten – Os Africanistas ) geprägt wurden. So finden sich hier Namen wie etwa: Paiva Couceiro, Eduardo Galhardo, Artur de Paiva, Francisco Pedro Curado, Mouzinho de Albuquerque, Teixeira Pinto usw.

Auf fast ironische Weise bringt uns eine gründliche Untersuchung dieser Persönlichkeiten auf die Spur afrikanischer Oberhäupter, deren Geschichten in der offiziellen portugiesischen Geschichtsschreibung verschwiegen und kaum erforscht wurden. Die Spuren reichen von Gungunhana bis zu den verschiedenen Sobas [2] unter Eduardo Galhardo.

Das stadtdurchdringende koloniale Element zeigt sich in Lissabon auf vielfältige Art und Weise, sowohl vereinzelt, als auch in seiner Komplexität. Die Beispiele gehen dabei über Formen und Symbole hinaus und schließen auch die Namensgebung der Straßen der Lissabonner Gemeinde Penha da França oder des Viertels Navegadores (dt. Seefahrer) mit ein – einem durch einen Umsiedlungsprozess entstandenen Viertel mit rassifizierter Bevölkerung. 

„Der Großraum Lissabon ist aufgrund seiner geographischen und sozialen Lage bereits kolonial.“

Welcher konkrete Ort steht Ihrer Meinung nach besonders für diese Beziehung zur Kolonialgeschichte Lissabons und warum? 

 

Meiner Meinung nach ist insbesondere dieses globale, übergreifende und starr reproduzierte Bild von Lissabon Ort kolonialer Erinnerung. Das zeigt sich an Struktur, Organisation und Funktion der Metropolregion: Der Großraum Lissabon ist aufgrund seiner geographischen und sozialen Lage bereits kolonial.

So besteht ein direkter Zusammenhang zwischen einer wachsenden Bevölkerungszahl und deren Ausbreitung innerhalb der Metropole und dem postkolonialen Prozess. Dieses Wachstum ist sowohl strukturell als auch in seiner Funktion kolonial organisiert. 

Man darf nicht vergessen, dass Lissabon bis zum 25. April und noch vor der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien rund 750.000 Einwohner*innen hatte. Die benachbarten Landkreise ebenso wie viele andere portugiesische Regionen hatten damals nicht einmal die Hälfte der Bevölkerungszahlen von heute. Es handelte sich vielmehr um vorstädtische Gebiete, Dörfer und ländliche Bezirke – sogenannte Saloias – die noch nicht offiziell als Vororte Lissabons galten.  

Und wie sieht es heute aus?

 

Heute ist Lissabon mit einer Einwohner*innenzahl von 3,5 Millionen von unterschiedlichen Migrationsbewegungen geprägt, die im Laufe der Geschichte ihren Platz in der Metropolregion fanden. So gab es vor der Revolution, in den 50er und 60er Jahren, bereits eine inländische Zuwanderung, Mitte der 70er Jahre folgte eine große Welle von Retornados . Ende der 70er Jahre begann eine Migrationsbewegung aus den ehemaligen Kolonien, die bis zu den 90er Jahren andauerte. Ab den 90er Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelte sich eine neue Generation von Eingewanderten, die aus verschiedenen afrikanischen Ländern, Asien, Osteuropa und Brasilien nach Portugal kamen. 

Wo siedelte sich diese migrantische und rassifizierte Bevölkerung an? 

 

Die rassifizierte Bevölkerung, die Rückkehrer*innen und Immigrant*innen aus den neuen unabhängigen Nationen (ehemalige Kolonien), siedelten sich zum einen in den noch unbebauten, urbanen Freiräumen am Stadtrand LIssabons an und zwar direkt neben der Ringstraße Estrada Militar Norte  (zwischen Caxias und Sacavém), zum anderen ließen sie sich in der Nähe von Industriekomplexen an der Margem Sul (Anm. d. Übers.: Stadtteile auf der anderen Flussseite) nieder, von der Werft Lisnave in Almada bis zur Chemiefabrik CUF in Barreiro.

Gründe dafür waren verfügbares Land, benachbarte Industrie und die Nähe zur Lissabonner Stadtgrenze. 

Und es handelte sich spezifisch um die Bevölkerung aus afrikanischen Ländern?

 

Die afrikanischen, besser gesagt kapverdischen Migrant*innen, die vor dem 25. April für die Arbeit an öffentlichen Bauten (wie etwa an der Brücke und ihren Zufahrten sowie an der Erweiterung des Lissabonner Flughafens) nach Lissabon kamen, siedelten sich in der Stadt selbst an, wenn auch an ihren Rändern und zwar in den Vierteln Charneca do Lumiar, Olaias, Xabregas und Chelas . Einige Studien haben gezeigt (siehe Vhils e Guterres „6 de Maio“ oder die von der Forschungsgruppe Afroport [3] durchgeführte Umfrage), dass die Pioniermigrant*innen dieser Einwanderungswelle keinen Platz im Inneren der Stadt fanden und gewissermaßen ins Brachland gedrängt wurden, wo sie ihre Viertel selbst aufbauen mussten. 

Inwiefern spiegelte sich dieser Prozess in den wirtschaftlichen Bedingungen wider?

 

Diese Art des Metropolwachstums hatte zur Folge, dass sich um den Lissabonner Innenstadtbezirk ein Ring aus rassifizierten Bevölkerungsgruppen bildete. Die Nachfahren der Migrant*innen aus den ehemaligen Kolonien wurden zu billigen, prekären und – abhängig von den jeweiligen Konjunkturzyklen – stets entbehrlichen Arbeitskräften. Nach dem Beitritt Portugals zur Europäischen Union und dem damit verbundenen Ende der großen Industrien als wirtschaftlichem Motor der Stadt und  dem Übergang in die Dienstleistungswirtschaft, wurde die informationelle Transformation gewissermaßen zu einer Befreiung für die vorher peripheren Viertel, denn sie wurden zum Infrastrukturzentrum des neuen Wirtschaftsmodells.

Und was ist mit den Umsiedlungen? 

 

Bei dieser als sozialpolitisch getarnten Maßnahme wurden zehntausende Familien in Sozialwohnungen umgesiedelt, die in einem dritten Ring um Lissabon erbaut worden waren. Wer eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangte (oder aufgrund von Familienzuwachs und dem oft mit mehreren Generationen geteilten Wohnraum eine größere Wohnung benötigte) zog in weiter entfernte Gebiete, die weit abseits des Stadtzentrums lagen und günstigere Wohnmöglichkeiten bereithielten, wie zum Beispiel in die Bezirke entlang der Zuglinie von Sintra , Miratejo , Corroios usw.

Es ist keinesfalls Zufall und sogar notwendig die Begriffe „Stadt und „Metropole innerhalb dieses Textes differenziert zu verwenden. In diesem Raum, der von mehr als drei Millionen Menschen bewohnt wird, lebt gerade mal 1/6 in Lissabon. Nichtsdestotrotz scheint es der einzige Ort zu sein der der Bezeichnung Stadt würdig ist, so als sei es der einzige Platz mit dem Recht zu träumen, dem Recht auf Geschichte, mit dem Recht das Zentrum zu sein.

Der Rest des Gebietes, in dem de facto die große Mehrheit der Bevölkerung lebt, wird lediglich als eine Art städtisches Kontinuum, als Peripherie oder Vorort wahrgenommen. Es ist kein Zufall, dass die dort ansässigen Bewohner*innen bei einem Gang nach Lissabon von einem „Gang in die Stadtsprechen (pt. „vou à cidade.“). Es handelt sich zwar um eine umgangssprachliche Floskel, in der aber eine sehr intelligente Assoziation mitschwingt: Die Stadt, cidade als Ort der Bürgerrechte, der cidadania . Auf diese banale, nahezu informelle Weise wird auf die Abwesenheit dieser Rechte im Großraum Lissabon aufmerksam gemacht.

Denken Sie, dass die Stadtgestaltung selbst die Grundlage einer Reihe von – zum Teil systemischen – Ungleichheiten ist?

 

Das koloniale System und die Organisation innerhalb der Metropolregion Lissabon sind weit mehr als ein abstraktes Konzept, denn die Qualität der öffentlichen Politik wird in Portugal durch den jeweiligen Ausgangsort bedingt. Wer an den kolonialen Orten der Metropole wohnt, lebt und überlebt, dem wird nur ein bestimmtes Maß an Qualität gewährt, sei es im Bildungssektor, in der Polizeiarbeit, im Gesundheitswesen, usw. Obwohl die Probleme in den einzelnen Sektoren zum Teil bereits erkannt wurden, trifft es immer die gleiche Bevölkerungsgruppe, die folglich unter zahlreichen disempowerments zu leiden hat: Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Rassismus, fehlende Dokumente, prekäre oder unzureichende Wohnverhältnisse, erschwerter Zugang zu Gesundheitsversorgung, verwehrtes Recht auf kulturellen Ausdruck, usw. Diese Anreihung und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher „Schichten“ definieren, meines Erachtens nach, die koloniale Erinnerung der Metropolregion Lissabon als etwas Alltägliches. 

Übersetzung: Maelle Karl

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FUSSNOTEN

[1] [Anm. d. Übers.: dem diktatorischen Regime unter António Salazar]

[2] Bezeichnung der Dorfältesten in Angola

[3] Afroabstammung in Portugal: Gesellschaftsentwürfe, Repräsentationen und soziopolitische und kulturelle Dynamiken. Eine Studie in der Metropolregion Lissabon. [Anm. d. Interv. Marta Lança]