Erinnerungen an São Bento, einen der ältesten Stadtteile Lissabons, und seine Bewohner afrikanischer Herkunft. Von Schwarzen Sklaven, die ab dem 16. Jahrhundert hier lebten, bis zu Einwanderern der kapverdischen Inseln, die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hierher kamen. Eine Reise durch die Zeit und die persönlichen Erfahrungen des Schriftstellers Joaquim Arena und seiner Familie.
Als Kind dachte ich immer, dass es in dieser Straße tatsächlich einen Brunnen gegeben habe, aus dem nur die Schwarzen Wasser schöpfen durften. Wir wohnten etwas weiter unten, in einer Dachwohnung im dritten Stock in der Rua das Gaivotas. Vielleicht lagen die Überreste des besagten Brunnens ja irgendwo unter den Straßenbahnschienen und dem alten Bürgersteig begraben. Historikern zufolge befand er sich am Ende der heutigen Rua do Poço dos Negros (Straße des Brunnens der Schwarzen), einem Brunnen, der in Wahrheit eine breite, tiefe Grube war, die König Dom Manuel I. im 16. Jahrhundert für die Leichen der Schwarzen Sklaven hatte ausheben lassen, die innerhalb der Stadtmauern starben. Heidnische, nicht getaufte Sklaven. Zu jener Zeit machten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Auf die in die Grube geworfenen Leichen wurde zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Kalk geschaufelt. Nicht weit von der Rua do Poço dos Negros entfernt entstand auf einem Hügel mit Blick auf den Tejo ein Viertel namens Mocambo. Seine Bewohner waren Sklaven und freigelassene schwarze Sklaven, die in der Stadt arbeiteten. All dies befand sich außerhalb der Stadtmauern Lissabons.
Mit der Zeit wuchs und expandierte die Stadt. An die Strände des Tejo zogen Fischerfamilien von der portugiesischen Küste. Überall entstanden neue Stadtteile. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wich das Mocambo-Viertel dem Viertel Madragoa, und da es keine Gesetze zur Rassentrennung gab, gingen Schwarze und weiße Bevölkerung ineinander auf. Doch die verschiedenen Konvente und Klöster, in deren Küchen und Gärten die schwarze Bevölkerung beschäftigt war, gibt es noch immer, wie das Convento das Trinas im früheren Mocambo-Viertel, das ebenfalls dort befindliche Mosteiro da Nossa Senhora da Nazaré (das auch Convento das Bernardas genannt wird) und das Mosteiro de Santa Brígida.
Die Vergangenheit ist noch immer lebendig
Wir kamen Anfang 1971 nach São Bento. Die kapverdische Gemeinde bestand aus mehreren Familien von Seeleuten, die sich bereits im vorangegangenen Jahrzehnt hier niedergelassen hatten. Die Männer nutzten das Arbeitsangebot vor allem der niederländischen Handelsmarine. Die Mütter waren Hausangestellte. Es gab kapverdische Bars und Restaurants, und in einem Plattenladen konnte man die ersten Aufnahmen des Sängers Bana und der Band Voz de Cabo Verde finden. Nicht weit davon entfernt, im Stadtteil Janelas Verdes eröffnete ein Einwanderer von der Insel São Vicente das Restaurant O Andaluz, in dem auch kapverdische Musik gespielt wurde. Die Band África Star veranstaltete ihre ersten Tanzveranstaltungen in einem Keller in derselben Gegend, bevor in der Rua de São Bento das Tanzlokal Lontra und Mitte der 1980er Jahre die Diskothek Cocnot eröffnet wurden.
Ob aus Zufall oder nicht, die Geschichte des Stadtteils São Bento ist von Menschen des afrikanischen Kontinents und der kapverdischen Inseln geprägt worden. Sein genius loci ist ihnen zu verdanken. Die Vergangenheit ist noch immer lebendig in den kreolischen Damen, die mit Lockenwicklern im Haar aus dem Fenster schauen und in den gemächlich vor den Cafés rauchenden Rentnern. In den letzten Jahren ist die Pensão Madeira auf halber Höhe der Rua de São Bento zur Heimat für Hunderte von evakuierten kapverdischen Patienten geworden, die sich in Portugal einer medizinischen Behandlung unterziehen. In derselben Straße hat kürzlich das kapverdische Kulturzentrum, das Centro Cultural de Cabo Verde, seine Türen geöffnet.
Wissen, wie man die Erinnerung bewohnt
Über die in der Gegenwart weiterlebenden vergangenen Zeiten nachzudenken ist in São Bento geradezu unausweichlich. Einer Gegenwart, die tief berührt, in der Erinnerungen und Phantasie sich vermischen. Die sichtbaren und unsichtbaren Spuren, jene Zeichen, die nur die Seele deuten kann. Im Gegensatz zu den Außenbezirken der Stadt haben sich das Viertel und seine von der kreolischen Kultur geprägten Straßen kaum verändert. Die Erinnerungen müssen nicht wiederbelebt werden, sie waren nie in Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Die vergangenen Zeiten und Erinnerungen manifestieren sich in den alten Gebäuden, den schmiedeeisernen Balkonen, den Sprossenfenstern, den Holztreppen und den Blumen hinter den Mauern. Ihr Weiterleben hängt nicht von Berichten oder Zeitzeugen ab. Die Stadt oder das Viertel unserer Kindheit müssen wir hier nicht vergeblich suchen. Wenn wir hügelan und hügelab durch die Straßen und Gassen und über die Plätze unseres Viertels schlendern, spüren wir, wie unser Leben sich zu einem Ganzen zusammenfügt. Die Rückkehr ist verbürgt. Es ist, als hörte man das Bimmeln der Straßenbahn, die um die Ecke biegt: Ein Bild der Dauerhaftigkeit.
Als wir in eine größere Wohnung am Stadtrand zogen, lebte meine Mutter weiterhin aus der Ferne in São Bento. Sie konnte nicht verbergen, wie sehr ihr die enge Beziehung zu dem Stadtteil fehlte. Jeden Monat kehrte sie dorthin zurück. Mal, um Freunde zu sehen, mal, um in den gewohnten Geschäften einzukaufen. Fast immer nahm sie die Straßenbahn, das einzige Verkehrsmittel, das sie für wirklich sicher hielt. Das Umklappen der beweglichen Sitzlehnen beim Richtungswechsel der Straßenbahn war für sie eine der außergewöhnlichsten und eindrucksvollsten Erfindungen. Und wenn sie nicht nach São Bento zurückfuhr, lebte sie nostalgisch in Zeit und Raum ganz in der Erinnerung. Die Sprache der Erinnerung war schon immer Teil ihres Wesens, angefangen bei der Erinnerung an die Inseln São Nicolau, São Vicente und Sal, auf denen sie gelebt hatte.
Mich hat stets fasziniert, wie subtil sie mit Raum und Zeit umging. Die Zärtlichkeit, mit der sie der Gegenwart, dem Resultat dieses Zusammentreffens, nachhing. Die Erinnerung war ihr bevorzugtes Zuhause. Ihr Raum der absoluten Freiheit, den sie betreten und verlassen konnte, wann immer sie wollte. Sie machte jedes Mal davon Gebrauch, wenn sie Besuch von langjährigen Freundinnen oder den Cousins und Cousinen bekam, die am Südufer des Tejo wohnten. Das Gedächtnis als Ort der Stabilität und Beständigkeit. Zu wissen, wie man die Erinnerung bewohnt, ist eine Gabe. Zu wissen, wie man sich in ihren Gängen fortbewegt, wie man Gefühle des Glaubens und der Leidenschaft Gestalt annehmen lässt, heißt Frieden kennen. Es bedarf der Kunst, um das Narrativ des Unsichtbaren so zu bewahren, dass unsere biologischen Bedürfnisse dabei befriedigt werden können. Die Verbindung und Liebe meiner Mutter zum Viertel São Bento ist auch heute noch ein Werk der Zeit. Das leichte Rauschen der vergehenden Zeit, durch das gemächlich und gleichmütig eine Straßenbahn fährt.
Sehnsucht nach etwas Verlorenem
Plötzlich merke ich, wie ich das Bild auch anderer Bewohner, die hier gelebt haben, in mir wachrufe und wie ich ihren Alltag rekonstruiere. Ich stelle mir vor, wie sie dieses Leben, ihre neuen und alten kulturellen Bindungen, hier ausgestaltet haben. Ihre ganz privaten Erfahrungen, ihre ästhetischen Werte. Die Einschränkungen oder den Stand ihrer Bequemlichkeit. Ich frage mich, welche Bedeutung die Ecken und Winkel, die Hügel, die Bilder und Bezugsgrößen der Stadt für sie hatten. Der genius loci eines Ortes entsteht auch im Innehalten und in der Summe der Erfahrungen. Einschließlich derer der Sklaverei und anderer Formen der Gefangenschaft. Anderer Schicksale. Auch das ist ein Vermächtnis, der verlängerte Arm der Erbauer dieses Ortes.
Es gab Geschichten, die immer wieder erzählt, Erinnerungen, die unzählige Male am Küchentisch neu durchlebt wurden. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem meine Mutter sichtlich verstört aufwachte. Sie hatte einen schrecklichen Traum gehabt: Ihre Freundin Vicência, Dona Vi, war im Rollstuhl die Treppe des Gebäudes hinuntergestürzt, genau in dem Moment, als meine Mutter hinaufgehen wollte, um sie zu besuchen. „Träume sind die Strafe für unsere Fehler“, sagte sie zu mir. Die Buße des Menschen ist immens. Meine Mutter trank einen Schluck Wasser. Auch die Angst wird weggewaschen. Nicht jedoch die Erinnerungen.
Dona Vi war eine nette Frau von unerfüllter Sehnsucht und tiefer Religiosität. Ich sah sie zum ersten Mal auf einer Hochzeitsfeier, in dem Monat, in dem die Jacaranda-Bäume auf der Avenida D. Carlos I. blühten. Als ihr Bruder aus São Vicente kam, besuchten wir die Christusstatue, den Jahrmarkt und den Zoo. Jeder, der von den Inseln kam, wollte die Christusstatue, den Jahrmarkt und den Zoo besuchen. Ich hörte, wie meine Mutter sagte, Dona Vi sei wegen einer leidenschaftlichen Jugendliebe so traurig. Jeder schien irgendetwas zu wissen. Niemand war sich sicher. Sie behandelte mich, als wäre sie meine Tante und ich mochte den Geruch ihrer Hand. Ich erinnere mich an das riesige Foto von einem Flugzeug, das gerahmt an der Wand des Aufenthaltsraums der Pension hing. Darunter die Inschrift: Isola di Sal, Savoia-Marchetti Sm 83. Aber Dona Vi, so hieß es, hatte angefangen, in der Dämmerung zu trinken. Zuerst trank sie im Verborgenen. Doch nur anfangs. Dann fand man sie allein am Fenster, wie sie sich auf Italienisch mit ihren Geistern stritt. Die schienen dort im Wasser des Tejo zu leben. Als der Diabetes sie bewegungsunfähig machte, übernahm die Tochter die Pension.
Im Laufe der Jahre haben mich die Wendungen meines Lebens immer wieder von São Bento ferngehalten. Nur wenige Male bin ich kurz dort gewesen. Aber es war unvermeidlich. Stets hat eine melancholische Wärme mich aufgeweckt. Die Sehnsucht nach etwas Verlorenem, das ich nie wiedergefunden habe. Ein fernes Glück, das seinesgleichen nicht hat. Bis ich eines Abends in den 1990er Jahren Carlos wiedertraf, den Sohn einer Freundin meiner Mutter, der mein Freund in Kindertagen gewesen war. Die Familie wohnte im vierten Stock der Travessa da Peixeira, auf einem Hügel mit Blick auf die Rua de São Bento. Ich hatte die Nachmittage bei ihm zu Hause verbracht und mit seinem jüngeren Bruder gespielt. Von seinem Balkon aus konnte man die Wachablösung der Soldaten vor dem Parlamentspalast sehen. Er erzählte mir, dass er fünfundzwanzig Jahre lang alles fotografiert habe, „was sich bewegt oder auf ewig versteinert ist: Tiere, Häuser, Denkmäler, Pflanzen, Menschen, Autos, Boote“. Er hatte freiberuflich für Zeitungen, Zeitschriften, private Firmen, Universitäten, Institute, Biologen, Professoren gearbeitet. Die Dinge liefen gut, bis die Budgets gekürzt und die Verträge gekündigt wurden. Nach einem kurzen Abstecher nach Macau war Carlos nach Lissabon zurückgekehrt. „Und was ich mir nie hätte vorstellen können: Mein Glück habe ich hinter einem Tresen gefunden, wo ich typische kapverdische Gerichte, Ponche und Zuckerrohrschnaps serviere. Meine Kundschaft ist für mich zu einer Art zweiter Familie geworden.“ Obwohl er nach wie vor den Wunsch hat, auch künftig zu fotografieren, ist daraus mit der Zeit eher eine Leidenschaft geworden als eine Beschäftigung für den Lebensunterhalt. „Weißt du, ich bin viel gereist. Ich habe immer von einem Ort geträumt, an dem ich Freunde empfangen und Freunde finden kann. Vielleicht ein kleines Hotel am Meer, am liebsten in einem Land in den Tropen. Wo ich die Gäste so behandeln kann, als würde ich sie in meinem eigenen Haus willkommen heißen.“
Seltsame Sprachen und Alphabete
Jeden Nachmittag wählte Carlos eine andere Route und fotografierte in einem Rausch der Wiederentdeckung alles, was er sah: Türen, Balkone, Fenster mit Blumen davor, Mansarde, Straßenecken. Bei einem seiner ersten Ausflüge war er durch die düstere Rua dos Mastros gelaufen, in der sich die Arztpraxis von Dr. Cipriano befunden hatte, zu dem alle im Viertel gingen. Sie führte hinunter zum Largo do Conde Barão, wo wir sonntags an einem Kiosk mit Eisenstühlen davor Laranjina C zu trinken pflegten. Seine Spaziergänge zogen sich über Monate hin. Irgendwann merkte er, dass er eine vollständige, detaillierte Sammlung von Fotos dieser Straßen, Gassen, Gebäude, Hügel, Ausblicke auf den Tejo, des Parlamentspalastes und der Parks, in denen wir gespielt hatten, besaß. Wir sprachen über unsere ganz privaten und einzigartigen Erfahrungen mit unserer Straße, über das persönliche Universum eines jeden von uns. Über die Art und Weise, wie sie sich zusammenfügen und diesen größeren Raum der Kindheit bilden. Eine größere Einheit darstellen, die des Stadtteils. Über die Sichtbarkeit und das Bewusstsein, das in uns wächst. Über den ästhetischen Wert, den wir ihm später zuschreiben. Über die zeitliche Geschlossenheit, die dieses Zusammenspiel von Emotionen für immer besiegelt. Schließlich spekulierten wir unter anderem darüber, wie sich all dies später in der Zukunft widerspiegeln würde und begossen alles mit ein paar Flaschen Wein, die uns in die Tiefen einer existentialistischen Sentimentalität zu reißen drohten.
Und dann wandte er sich zu mir und sagte, er hätte zum Thema Erinnerung und Zeit eine gute Geschichte auf Lager. Eines Abends, so erzählte er mir, seien zwei amerikanische Touristinnen in das Restaurant gekommen. „Eine der beiden war Afroamerikanerin, beide waren sie in den Vierzigern und stammten aus New York. Sie saßen an einem der Tische direkt neben der Tür, von dem aus sie die vorbeifahrenden Straßenbahnen beobachten konnten. Ich bemerkte, dass eine von ihnen, Catherine, eine wunderschöne Kamera dabei hatte, und sie erzählte mir dann, wie verzaubert sie von Lissabons alten Vierteln sei. Sie arbeitete für verschiedene amerikanische Zeitschriften. Noch so eine Ausländerin, die sich in die Hügel und die Stadtansichten verliebt hat, dachte ich. Sula, ihre afro-amerikanische Freundin, war eher schüchtern. Sie verfolgte schweigend die Unterhaltung. Als wir über unsere Herkunft und ich ein bisschen über mich und meine Schwester, das Restaurant und allerlei anderes sprachen, sagte Catherine begeistert, ihre Freundin sei auch auf den Kapverden geboren. Sula hieß eigentlich Sulamita und stammte aus São Vicente. Sie arbeitete als Innenarchitektin, wie sie mir erklärte. Seit Tagen sah sie sich die Innenhöfe in Lissabon an und die hochgelegenen Gärten der Häuser auf den Hügeln, die sie liebte. Sie war, als sie noch sehr klein war, mit ihrer Mutter in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Ich fragte sie, ob sie noch Kreol spreche. Sie lachte und verneinte. Ihre Mutter hatte einen italienischen Buchhalter aus Newark geheiratet, und sie hatten nur selten Kontakt zu Menschen aus Kap Verde.
Als das Mittagessen beendet war, erklärten mir die beiden, dass sie noch Sintra und Óbidos besuchen wollten. Wir verabschiedeten uns. Ich sah ihnen von der Tür aus nach. Zwei Freundinnen mittleren Alters, dachte ich, interessant, kultiviert, die ihre Portugalreise in vollen Zügen auskosteten. Eine Woche später kamen sie wieder, dieses Mal zum Abendessen. Es war ihr letzter Abend in Portugal. Ich spendierte ihnen das Dessert, Süßspeisen von den Inseln, die Spezialität meiner Schwester. Am Ende des Abends, nach mehreren Gläsern Ponche, waren wir wie alte Freunde. Wir sprachen über alles Mögliche, bis wir beim Thema Musik zu Sulas Geschichte zurückkehrten. Sie erzählte mir, sie habe noch einige Erinnerungen an die Spiele, an das Haus ihrer Großmutter, an ihre Nachbarn in Mindelo. Auf der Reise mit ihrer Mutter nach Amerika hatten sie tatsächlich einen kurzen Aufenthalt in Lissabon eingelegt, da war sie sieben Jahre alt gewesen. Sie hatten im Haus einer Freundin der Familie logiert, aber sie konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern und war sich auch nicht sicher, wo das gewesen war. Plötzlich nahm aus den Tiefen meines Gedächtnisses das Bild eines kleinen Mädchens und seiner Mutter Gestalt an, die wir zu jener Zeit auch bei uns zu Hause empfangen hatten.“
Zuletzt geändert am: 05/12/2024 18:43:51