Luzia Gomes

© Virgínia Yunes

Luzia Gomes
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„Mouraria ist ein Raum der ständigen Besetzung und Wiederbesetzung durch Migrant*innen, ein anderes Lissabon innerhalb von Lissabon in dem Migrant*innen ihr Leben gestalten und Erinnerungen schaffen.”

Interview: MARTA LANÇA

Welcher Ort in Lissabon trägt ihrer Meinung nach die meisten Spuren der Kolonialität?

 

Ein Ort der Erinnerung in Lissabon, der auf beschämende Art und Weise eine direkte Beziehung zur Kolonialität aufzeigt, ist Belém. Belém ist die Materialisierung der kolonialen Gewalt, die in der portugiesischen Gesellschaft präsent sein will und in ihrer Struktur erhalten bleibt. Insbesondere das  Padrão dos Descobrimentos (Denkmal der Entdeckungen), das nicht an eine ruhmreiche Vergangenheit erinnert, sondern an die Gewalt gegen die afrikanischen Völker und die Ureinwohner (Amerindianer) Südamerikas, insbesondere in Brasilien. Denkmäler verfestigen eine Erzählung der Geschichte, in der Regel die Erzählung derer, die geschändet, ausgebeutet, versklavt, vergewaltigt und getötet haben. In diesem Sinne verfestigt das Denkmal der Entdeckungen den Irrglauben, dass die Orte, die von den portugiesischen Kolonisatoren erobert und gewaltsam besetzt wurden, nicht sozial-kulturell und politisch organisiert waren: was nicht der Wahrheit entspricht! Jedes Mal, wenn ich auf das Padrão dos Descobrimentos blickte, erkannte ich empört den Widerstand der portugiesischen Gesellschaft dagegen, andere Geschichten zu erzählen, Geschichten bei denen die Gedanken Nicht-weißer Akteur*innen im Mittelpunkt der Erzählung stehen. 

Denken Sie als Schwarze Brasilianerin, dass sich die Geschichte der Beziehung Ihrer Länder in Lissabon widerspiegelt?

 

Ja und Nein. Meiner Einschätzung nach ist die Geschichte Brasiliens in Portugal noch immer von Stereotypen durchsetzt und wird aus einer luso-tropikalistischen Perspektive erzählt. Darüber hinaus nehme ich wahr, dass die Geschichte eines einzigen Brasiliens erzählt wird, die nicht die kontinentale Dimension dieses riesigen Landes widerspiegelt. Brasilien ist Küstenland, aber es ist auch Savanne, Amazonien und auch Halbwüste des Sertão. Brasilien ist das Blau des Atlantischen Ozeans in Salvador und Rio de Janeiro, aber es ist auch das braune Wasser der Bucht von Guajará und Guamá, in Belém do Pará. Es ist unbestreitbar, dass Brasilien in Lissabon kulturell präsent ist, auch wenn unsere brasilianischen Körper auf portugiesischem Boden oft nicht willkommen sind und wir fast immer mit Argwohn betrachtet werden. Daher denke ich, dass – so wie Brasilien Portugal nicht kennt – Portugal Brasilien ebenfalls nicht kennt. Insbesondere wenn es um die Widerstandskämpfe der versklavten Schwarzen und der amerindianischen Bevölkerungsgruppen zur Vertreibung der Portugiesen von brasilianischem Boden während der Kolonialzeit geht. 

Welchen Ort würden Sie als Gedenkstätte für den Widerstand in der Stadt Lissabon wählen?

 

Als Ort des Gedenkens aus einer Perspektive des Widerstands wähle ich das Viertel Mouraria. 

Warum? 

 

Nicht nur wegen der affektiven Beziehung, die ich zu diesem Viertel hatte, als ich dort lebte, sondern weil es ein Raum ständiger Besetzung und Wiederbesetzung durch Migrant*innen ist. Ich bin keine Historikerin, daher kann ich nicht auf Grundlage einer historischen Analyse sprechen, aber als Anthropologin begreife ich das Viertel als lebendigen Organismus eines Widerstands, der das portugiesische Sozialgefüge verändert. Ein stiller Widerstand der Nicht-Portugies*innen und Nicht-weißen, die ihre Ästhetik in die Straßen und Gassen von Mouraria einschreiben. Ich meine damit nicht die Touristen, die dort ein paar Tage oder das Wochenende verbringen, was die Verdrängung der Bewohner*innen und der Armen absolut beschleunigte. Ich beziehe mich auf das Viertel, das noch immer die Merkmale der Migration aufweist, der Migrant*innen, die diesen Raum im Zentrum der Stadt besetzen, deren Söhne und Töchter bereits in Portugal geboren wurden und oft nicht als Portugiesinnen und Portugiesen anerkannt werden und deren Rechte als Staatsbürger*innen nicht garantiert sind. Aber diese Menschen sind da und sind Teil der Erinnerung an dieses Viertel. 

Diese Erinnerung muss in der portugiesischen Gesellschaft thematisiert werden, indem man die Körper in den Vordergrund rückt, die viele Portugies*innen unsichtbar machen und dem Vergessen unterwerfen. Wenn ich von hier aus dorthin schaue, geht mir Mouraria nicht aus  dem Kopf – als ein anderes Lissabon innerhalb Lissabons, in dem die Migrant*innen ihr Leben gestalten, Erinnerungen schaffen, das tägliche Leben in einem territorialen Raum verändern, der auch durch Erfahrungen, Gemeinschaft und Zuneigung geprägt ist. 

Diese „Nicht-Portugies*innen“ werden als Problem für die portugiesische Gesellschaft betrachtet. Doch Fakt ist, dass sie existieren und als konstituierende Wesen des nationalen Gedächtnisses der Gegenwart Portugals betrachtet werden müssen. Ich denke nicht an eine Intervention in der Art, ein spezifisches Denkmal oder Museum in dem Viertel zu schaffen, denn für mich sind diese Sozialstrukturen dort bereits ein Erbe, die nicht-weißen Körperlandschaften, die es zu erhalten gilt.

Wie sehen Sie die Debatten über Erinnerungspolitik in Portugal und Brasilien? 

 

Die Debatten zur Erinnerungspolitik in Brasilien und Portugal sind sehr unterschiedlich. Während ich speziell in Lissabon eine Diskussion wahrnehme, die sich immer noch sehr um Stein und Kalk, d. h. Denkmäler, Gebäude und Museen, dreht, glaube ich, dass wir in Brasilien dieses Stadium überwunden haben und auch das mit einbeziehen, was wir als immaterielles Erbe bezeichnen. Ich werde hier nicht beschreiben, was immaterielles Erbe ist, denn es gibt eine bedeutende brasilianische Bibliographie zu diesem Thema. Ob in Portugal oder in Brasilien, die Politik der Erinnerung ist in jedem Fall ein Feld der Auseinandersetzung unterschiedlicher Erzählungen: als Vektor eines nationalen Gedächtnisses privilegieren Museen und Denkmäler (mit wenigen Ausnahmen) nach wie vor das Erbe reicher weißer Männer, die im Dienste des ruchlosen Kolonialisierungsprojekts standen. Diese Erinnerungen nähren die Kolonialität und bekräftigen historische Traumata, indem sie den Rassismus materialisieren. Kurz gesagt: In Brasilien und in Portugal schaffen die Schwarze Bevölkerung, die indigenen Völker (Brasilien), die nicht-weißen Bevölkerungen ihre Erinnerungsräume und ihr Kulturerbe, obwohl diese oft nicht als nationale Erinnerungen angesehen werden.