Jean-Yves Loude

© Viviane Lièvre

Jean-Yves Loude
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„Es ist besser, die Arten des Widerstands und der kulturellen Produktion von Bevölkerungen, die der Kolonisierung unterworfen waren, zu betonen.“ 

Interview: MARTA LANÇA, 2021

Welche Orte in Lissabon halten Sie für am relevantesten in Bezug auf die Kolonialität?

 

Eine der Folgen der ‚Entdeckungen war die Ankunft von Sklav*innen in Lissabon.“

Die Capela de Nossa Senhora do Rosário (Kapelle der Jungfrau Maria vom Rosenkranz) in der Igreja da Nossa Senhora da Graça. Beim Eintreten sehen wir zu unserer Linken vier Schwarze Heilige. Für mich ist das eine sehr seltene Entdeckung. Die Präsenz von Schwarzen Heiligen, die in Portugal, in der Stadt Lissabon im 15. Jahrhundert begann, weist auch auf die Existenz von Laien- und religiösen Bruderschaften über die Jahrhunderte hinweg bis zum 20. Jahrhundert hin.

Eine der Folgen der „Entdeckungen“ war die Ankunft von Sklav*innen in Lissabon, doch die Herren dieser Sklaven waren dazu verpflichtet, sie in der Religion zu unterweisen, das war eine wichtige Pflicht. Auf diese Weise akzeptierten die Kirche und die politischen Machthabenden Portugals den Eintritt der Sklaven in ärmere Bruderschaften, wo die Schwarzen den Hungernden, Verletzten, Kranken helfen oder Personen beim Sterben begleiten konnten.

Die Bruderschaften trugen zur Befreiung einiger Sklaven bei. Sie waren eine besondere Institution in der Geschichte Portugals, weil die Pflicht der Bruderschaft von Nossa Senhora do Rosário die Katechese war. Sie half der Landbevölkerung, Slav*innen und allen Analphabet*innen zu beten.

Ist dies eine Geschichte, die in der Kapelle sichtbar ist oder gelangen wir nur über eine Recherche zu diesem Wissen?

 

Die Geschichte ist sehr deutlich: Wir kennen die Namen der vier Heiligen. Ihre Verehrung erstreckt sich über den gesamten portugiesisch-sprachigen Raum. Es ist selten, alle vier Heiligen in einer einzigen Kapelle vereint zu finden. Normalerweise haben wir São Benedito de Palermo, den berühmtesten der vier, dann Santo António de Noto, die Heilige Santa Ifigénia, die einzige Schwarze Heilige der katholischen Kirche, sowie Santo Elesbão aus Nubien, Äthiopien. Alle diese Heiligen waren sehr wichtig für die Sklavinnen und Sklaven. Die sizilianischen Brüder [São Benedito und Santo António de Noto] verbreiteten den Glauben in Spanien, Portugal und sogar Brasilien. In einem Raum neben der Kapelle gab es eine Ausstellung einer Prozession aller Bruderschaften Lissabons. Dort konnte man die Bruderschaften der Schwarzen als Keramikfiguren sehen.

Was wäre eine weitere Möglichkeit?

 

Der Largo de São Domingos in der Nähe des Rossio, auch bekannt als „die Botschaft Guineas“. Wenn wir heute über diesen Platz gehen, können wir viele Gruppen afrikanischer Menschen sehen. Sie sind dort, um Informationen und Leistungen auszutauschen sowie Neuankömmlinge zu empfangen. In den Nachbarstraßen finden wir afrikanische Schönheitssalons, Gemüse- und Gewürzläden. Hier ist ein guter Beobachtungspunkt, um die afrikanische Präsenz in Lissabon wahrzunehmen. Bereits im 17. Jahrhundert war hier der Ort der Schwarzen Tüncher*innen, die ihre Dienste zum Tünchen der Wände und Häuser anboten. Hier wäre ein guter Ort für eine Statue.

Tüncher*innen

Viele Schwarze im Lissabon des 19. Jahrhunderts „verdienten mit Botendiensten ihr Geld. Der Kohle- oder Bastverkäufer zog seinen Karren die Straßen entlang und es schwirrten Schwarze Wäscherinnen umher, die Brandão de Buarcos auf 1500 im Lissabon des 17. Jahrhunderts und Umgebung schätzte. Durch die Straßen und über die Plätze zogen auch die Schwarzen Tüncher*innen, Männer und Frauen mit der Hoffnung auf eine Arbeit. Erst 1837 sollte eine kommunale Anordnung den Tünchern verbieten, sich auf der Praça do Rossio, in Lissabon, in der Erwartung von Kundschaft einzufinden.“ Aus Chão de Sombras – Estudos sobre Escravatura, de Maria do Rosário Pimentel, aus dem Portugiesischen von Tobias Hansen.

Es gibt hier bereits die Inschrift „Lissabon, Stadt der Toleranz“ in 34 Sprachen sowie einen Hinweis auf das Lissabonner Massaker an Jüd*innen im Jahre 1506. Jedoch nichts über afrikanische Menschen.

 

Das stimmt! Es gibt nur dieses lebendige Monument mit afrikanischen Menschen, die dort präsent sind. Aber man könnte eine Bronzestatue aufstellen und dem Schwarzen Kalkverputzer widmen.

„Statt anzuklagen, zeige ich lieber die Bedeutung der aktuellen Kultur von Bevölkerungen, die kolonialisiert wurden." 

Ein anderer Vorschlag für einen Erinnerungsort?

 

Die Rua do Poço dos Negros (Straße des Brunnens der Schwarzen). Es kommt selten vor, dass man einen Straßennamen findet, der explizit auf die afrikanische Präsenz hinweist. In den Zeiten von König Manuel I. wurde dieser Graben geschaffen, um die Leichen Schwarzer Menschen hineinzuwerfen, aus Gesundheits- und Hygienegründen. Es ist wichtig, das zu erklären. Wir könnten die Idee des Grabens wörtlich nehmen und uns vorstellen, wie Besucher*innen in eine unterirdische Stadt hinuntersteigen und sich in ihm durch die Geschichte der Kolonisierung und Sklaverei bewegen. Wir müssen diese Erinnerungen an eine verborgene Geschichte retten.

Welchen Ort würden sie für eine Intervention auswählen?

 

In Bezug auf die Kolonialgeschichte wähle ich den Jardim Tropical (Tropischer botanischer Garten). Er liegt in der Nähe des Padrão dos Descobrimentos und wurde zur Feier der portugiesischen Weltausstellung geschaffen, um die Bedeutung des portugiesischen Imperiums zu zeigen. Mit Pavillons von Cabo Verde, São Tomé, Angola. Als der kapverdische Komponist B.Leza sah, dass die kapverdischen Häuser in Stroh dargestellt waren, verließ er wütend den Garten. Die Organisator*innen der Veranstaltung richteten die Häuser her, um ihn zu besänftigen. Heute können wir im Jardim Tropical immer noch die Hütten an den Alleen des Gartens finden, mit Büsten afrikanischer und asiatischer Völker, die erhalten wurden und restauriert auf Säulen zu sehen sind.

Wie können wir daran erinnern?

 

Was ich mir wünschen würde für das Museum Quai Branly in Paris, das absolut kolonial ist, wäre, die Kreativität in den ehemaligen französischen Kolonien zu zeigen; den künstlerischen Ausdruck, den aktuellen, modernen und zeitgenössischen Widerstand der Länder des Südens zu zeigen. Für den Jardim Tropical könnten moderne Werke von Künstler*innen der lusophonen Länder in Auftrag gegeben werden, um zu verstehen, wie ihre Sicht auf die Kolonialisierung ist. Die Aufgabe unserer Zeit wäre, die komplizierten Geschichten, die interessanten Früchte aus dieser brutalen Hochzeit und die kulturelle Vermischung wie etwa in der kapverdischen Musik (die Morna wurde zum Weltkulturerbe erklärt) zu verstehen.

Statt anzuklagen, zeige ich lieber die Bedeutung der aktuellen Kultur von Bevölkerungen, die kolonialisiert wurden. Anklagen, das tun alle Bücher, die über das Gewicht der Vergangenheit berichten. Für mich gibt es Arbeit zu tun: das positive Ergebnis einer negativen Geschichte zu zeigen, die wir akzeptieren müssen.

Andererseits kommen die Gräuel der Kolonialgeschichte weder in Schulbüchern noch in den Orten der Stadt vor. Brauchen wir nicht die Hinweise auf diese Gewalt, um positive Ergebnisse dieser negativen Geschichte zu kontextualisieren?

 

Deshalb denke ich, dass das Ethnologische Museum den modernen Ausdruck ehemals kolonisierter Länder in den Räumen für Sonderausstellungen zeigen sollte. Ein perfektes Vorbild ist die Gedenkstätte zur Abschaffung der Sklaverei in Nantes. Sie befindet sich an einem Kai nahe des Flusses. Zunächst ist nichts zu sehen, doch im Weitergehen sehen wir auf Schildern Namen von Schiffen, die am Sklavenhandel beteiligt waren. Das Monument erhebt sich nicht, man muss hinuntersteigen.

Es folgt also eher der Logik einer Erinnerungsstätte…

 

Wir steigen hinab in den Laderaum einer Art Schiff, in dem Wörter zu lesen sind, die zur Befreiung der Sklav*innen beitrugen. Ein Rundgang durch die Würdigung versklavter Bevölkerungen. Es ist eine Erinnerungsstätte als Sakralbau, eine unterirdische Kathedrale.

Wäre für Sie also die Reflexion der Ergebnisse für das Erinnern wichtiger als eine Auseinandersetzung mit  vergangenen Verbrechen?

 

Meine Frau Viviane und ich verbrachten 25 Jahre damit, über die positiven Ergebnisse dieser brutalen Hochzeit nachzudenken. Es ist besser, die Arten des Widerstands und der kulturellen Produktion von Bevölkerungen, die der Kolonisierung unterworfen waren, zu betonen. Ich wünsche mir, dass mehr Stolz gezeigt wird. Eine wichtige Veranstaltung, die in Lissabon gerettet werden muss, ist beispielsweise das África Festival. Es war eine Möglichkeit, die afrikanische Dynamik zu zeigen und wurde abgeschafft. Ein schrecklicher Fehler! Paula Nascimento, die Organisatorin des Festivals, war die richtige Person, um diese Brücken zu schlagen. Ich und viele Menschen können den Erfolg bezeugen.

Lissabon ist eine reiche, intensive Stadt, die ihre Qualitäten nicht nutzt.