João Pedro George

© Marta Lança

João Pedro George
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„Wir überqueren Straßen und Alleen, deren Namen einzelne Punkte einer kolonialen Kartografie darstellen.“

Interview: Marta Lança, 2020

Aus der Erfahrung Ihrer Arbeit über Orts- und Straßennamen in Lissabon: Welche Beispiele in der Stadtgestaltung würden Sie mit Kolonialität verbinden?

Diese Beispiele sind über die gesamte Hauptstadt verstreut. Wir überqueren Straßen und Alleen, deren Namen Punkte einer kolonialen Kartographie darstellen, die das koloniale Verhältnis Portugals zu einigen afrikanischen Territorien fortschreibt. Doch innerhalb des „postkolonialen urbanen Diskurses in Portugal” ist es wichtig, zu unterscheiden: Es gibt Straßen, Plätze und Alleen mit Namen, die auf die erste Phase der kolonialen Expansion verweisen. Lissabons Viertel Belém zum Beispiel erhielt im Zuge der Portugiesischen Weltausstellung von 1940 Namen von Seefahrern, wie die Avenida Vasco da Gama, Rua Cristóvão da Gama, Rua Jerónimo Osório oder Rua Fernão Mendes Pinto, sowie Namen von Historikern, die deren „Taten” aufschrieben, wie die Rua Damião de Góis und Rua Fernão Lopes de Castanheda, von Missionaren dieser Epoche, wie die Rua São Francisco de Xavier (ein Missionar, der von der katholischen Nachwelt ,Apostel des Orients’ und ,Heiliger Schutzpatron von Goa’ getauft wurde), oder sogar von einem der Könige, der die Ausdehnung des portugiesischen Imperiums vorantrieb: Praça D. Manuel I. Darüber hinaus existiert in Belém noch ein Praça do Império (Platz des Imperiums) sowie den Praça de Goa, Praça de Damão und Praça de Diu und Rua Soldados da Índia.

Darüber hinaus gibt es Orte, die die portugiesische Kolonialexpansion und ihr angeblich „zivilisatorisches” Werk durch Namen feiern, die Lissabon an die Geschichte der Exkursionen der sogenannten „Entdecker“ und Kolonialisten binden, die im 18. Jahrhundert Eroberungen und Beutezüge feierten (Paiva Couceiro, Mouzinho de Albuquerque, General Roçadas, etc. in der Nähe der Avenida Morais Soares und des Viertels Penha de França) und die über den Besitzanspruch und die Landnahme verschiedener Regionen gegenüber anderen Imperien von den verschiedenen Phasen des Ausbaus und der Konsolidierung des portugiesischen Imperiums zeugen, insbesondere im Kontext der Berliner Konferenz und der sogenannten Mapa Cor-de-Rosa [1].

Wenn wir bis zum Chiado weitergehen, finden wir die Rua Capelo und Rua Ivens, die im September 1885 (dem Ankunftsmonat der „Entdecker“ Hermenegildo Capelo und Roberto Ivens) die vorherigen Namen Travessa da Parreirinha und Rua de São Francisco ersetzten. Derselbe Erlass, der zu dieser Umbenennung führte, schuf auch die Rua Anchieta (vormals Rua da Figueira) und die Rua Serpa Pinto (vormals Rua Nova dos Mártires), beides „Entdecker“ der afrikanischen Territorien, insbesondere der Regionen zwischen Angola und Mosambik, wo sich die Wassereinzugsgebiete der Flüsse Zaïre und Sambesi befinden.

„Wir überqueren Straßen und Alleen, deren Namen einzelne Punkte einer kolonialen Kartografie darstellen.“

Können Sie die Geschichte des ehemaligen Bairro das Colónias (Viertels der Kolonien) in Arroios erläutern?

Dieses Viertel ist Teil der Orte, die die Geografie des portugiesischen Imperiums kartographieren. Das heutige Bairro das Novas Nações (Viertel der Neuen Nationen), das vor dem 25. April Bairro das Colónias (Koloniales Viertel) hieß, befindet sich auf dem Gebiet der ehemaligen Quinta da Mineira oder da Charca. Das Viertel Bairro das Colónias wurde in den 1920er Jahren (mit der entsprechenden Aufteilung der Baugrundstücke) geplant. Im darauffolgenden Jahrzehnt begann die Konstruktion der Gebäude, von denen die meisten im modernistischen und Art-Déco-Stil entworfen wurden. Obwohl der erste Vorschlag von der Notwendigkeit ausging, die wichtigsten Namen des portugiesischen Kolonialismus zu würdigen, wurde schließlich beschlossen, dass die Straßen Namen der damaligen portugiesischen Kolonien tragen sollten (sollte es Zweifel zur Verflechtung zwischen den kolonialen Tatsachen und der Funktionsweise der politischen Macht des portugiesischen Staates geben, hilft dieses Beispiel, denke ich, dabei, sie auszuräumen).

Sein Hauptplatz (der sich auf dem Schnittpunkt der Rua Ilha do Príncipe, Rua de Timor, Rua de Moçambique und Rua de Angola befindet) wurde Praça das Colónias (Platz der Kolonien) genannt. In einem Beschluss vom 6. Juli 1933 (nur einen Monat nach der ersten Zuschreibung) wurde er in Praça do Ultramar (Platz der Überseeegebiete) umbenannt, bis er schließlich am 17. Februar 1975 seinen heutigen Namen erhielt: Praça das Novas Nações (Platz der Neuen Nationen). Dieser mehrfache Namenswechsel ist der sichtbare Beweis, dass die territoriale Restrukturierung des postkolonialen Portugals kein so junger Prozess ist wie man denken könnte. Diesmal war das erklärte Ziel, die fünf neuen afrikanischen Nationen zu würdigen: Guinea, Mosambik, Kap Verde, São Tomé und Príncipe sowie Angola.

Die Straßen, die direkt oder indirekt von diesem Platz abgehen, tragen alle Namen der portugiesischen Ex-Kolonien (sowie anderer Länder): Rua de Angola, Rua de Moçambique, Rua da Guiné, Rua do Zaire, Rua da Ilha do Príncipe, Rua de Cabo Verde, Rua da Ilha de São Tomé, Rua de Macau, Rua de Timor. Auf eine gewisse Art und Weise formen diese Namen eine Art Erbe, das sich im Ortsnamen, in der Sprache und der Politik der europäischen Expansion ausdrückt, und verweisen daher auf die koloniale Vergangenheit. Darüber hinaus behielt ein Teil des existierenden Handels im Viertel seine ursprüngliche koloniale Identität. Zum Beispiel die Farmácia Colonial (Koloniale Apotheke) und die Autowerkstatt Auto-Colonial.

Es ist interessant festzustellen, dass sich der Bezirk Arroios selbst noch nicht dekolonisiert hat: Auf seiner Website steht Bairro das Colónias für Bairro das Novas Nações . Einige Beschilderungen des sogenannten Vertikalen Beschilderungssystems dieses Bezirks tragen bis heute diese Bezeichnung.

Was den Handel betrifft: Wird auch hier das koloniale Erbe sichtbar?

Es gibt die unterschiedlichsten Orte in Lissabon, die Spuren des portugiesischen kolonialen Imperiums weitertragen und auf den Estado Novo und die kolonialen Territorien verweisen: Restaurante Polana (Avenida de Roma), Supermercados Bilene (São Domingos de Benfica), Restaurante Império (Avenida Almirante Reis), Companhia de Seguros Império (heute Império Bonança), das Restaurante Zambeze (in Alfama; laut seiner Besitzerin, Vera Barbosa, „haben wir viele portugiesische Gäste, die aus Mosambik nach Portugal heimkehrten und nie wieder dorthin zurückgingen – manche, weil sie traumatisiert waren, andere aus freien Stücken – und die gern hierherkamen, weil sie hier eine mosambikanische Atmosphäre und die dortigen Speisen wiederentdecken konnten”). Und es gibt andere Orte mit fast archäologischen Spuren: in der Rua da Prata, zum Beispiel: In einem ihrer Gebäude befand sich der Geschäftssitz der Companhia Colonial de Navegação (Koloniale Schifffahrtskompanie) und in einem anderen die Banco Nacional & Ultramarino (Bank der Nation und Übersee).

Tatsächlich sind die kolonialen Spuren äußerst vielfältig und in unserem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben greifbar und dies nicht nur in Lissabon: In anderen Regionen des Landes finden wir mehr als nur ein Hotel Império (z. B. in Torres Vedras), Restaurante Moçambique (Matosinhos), Restaurante A Moçambicana (Braga), Restaurante O Retornado (eines in Chaves, ein anderes in Entroncamento) sowie, möglicherweise als ein Einzelfall in Portugal, die Rua Vítimas da Guerra Colonial gleich zu Beginn der Costa da Caparica.

Der Ort, der jedoch am deutlichsten an die koloniale Expansion, die Bestätigung des Imperiums und den damit verbundenen Rassismus erinnert, ist das Casa do Preto (Haus des Schwarzen), ein Geschäft mit traditionellen Queijadas (kleine Käsekuchen) in Sintra, die in einem Papier eingewickelt werden, das einen Schwarzen Menschen in Bedienstetenuniform zeigt.

Existieren Ortsnamen, die sich auf afrikanische Persönlichkeiten und den antikolonialen Kampf beziehen?

Selten, aber ja, sie existieren. Zum Beispiel die Avenida Eusébio da Silva Ferreira (ein portugiesischer Fußballer mosambikanischer Herkunft), die 2015 eingeweiht wurde und an einem Abschnitt der Segunda Circular beginnt (in Lissabon führt sie am Stadion Estádio da Luz vorbei) sowie die Rua Matateu, nach einem ehemaligen Fußballer benannt (in Lissabon); die Rua Óscar Ribas, die dem Schriftsteller, Ethnologen und führenden Vertreter der angolanischen Kultur gewidmet ist (in Cascais); die Avenida Raul Indipwo (Cascais) und die Rua Indipwo (Oeiras), Name des Musikers und Bandmitglieds des Duo Ouro Negro (in Cascais).

Außerdem finden wir Namen von Politikern und Vorreitern im Kampf gegen den Kolonialismus: die Rua Agostinho Neto, Ex-Präsident von Angola (Lumiar); Rua Amílcar Cabral, Gründer der PAIGC (Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde), auch Vater der Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde genannt (ebenfalls in Lumiar); Rua Mário Pinto de Andrade, ein angolanischer Schriftsteller und Essayist, Gründer und erster Präsident der MPLA (Volksbewegung zur Befreiung Angolas, in Seixal); Ruas Samora Machel, der erste Präsident der Republik Mozambik (in Odivelas, Loures, Vila Franca de Xira, Moita, Évora); Praça Eduardo Mondlane, einer der Gründer und erster Präsident der FRELIMO (Mosambikanische Befreiungsfront) in Mosambik (in Lissabon).

Einige Frauen afrikanischer Herkunft gaben ebenfalls verschiedenen Straßen ihren Namen: Avenida Cesária Évora, Sängerin aus Kap Verde (in Porto Salvo, Oeiras); Rua Antónia Pusich, eine kapverdianische Schriftstellerin und Journalistin (Lissabon); Rua Wanda Ramos, Schriftstellerin aus Luanda (Lissabon); Rua da Rainha do Congo (Lissabon); Rua da Preta Constança, einer afrikanischen Sklavin gewidmet (Lissabon); Rua do Poço dos Negros, deren Namen wahrscheinlich auf die Gräben verweist, in denen die Leichen der ungetauften Sklaven und Sklavinnen begraben wurden (Lissabon); Rua da Rainha da Ilha das Cobras, von unbekannter Herkunft, aber wahrscheinlich ein Hinweis auf eine afrikanische Persönlichkeit (Lissabon); Pátio das Pretas und Rua das Pretas, von unbekannter Herkunft (beide in Lissabon).

Welches Viertel der Stadt nimmt Ihrer Meinung nach am stärksten den Bezug auf die Kolonialgeschichte?

Hier wähle ich das Viertel Lissabons, das ich täglich durchquere, nämlich Vale de Santo António, wo die Avenidas Mouzinho de Albuquerque und General Roçadas liegen (die entsprechenden Straßenschilder nennen sie „Helden der Afrikakampagnen 1865–1926”), die vom Platz Praça Paiva Couceiro ausgehen bzw. in ihn einmünden. Es handelt sich um Namen, die von der übelsten Kolonialkultur geprägt sind und auf eine furchtbar rassistische Zeit verweisen, in der Kolonialismus banalisiert wurde und als das Goldene Zeitalter der imperialistischen Eroberung galt. Es sind Straßen, die die schlimmsten Akteure des portugiesischen Kolonialismus ehren, deren Taten offen den Rassismus gegen Schwarze Menschen verteidigten und die deshalb ihre Opfer – auch ihre aktuellen Opfer – demütigen. Diese Namen – und andere an die Avenida Mouzinho de Albuquerque angrenzende, wie die Rua Artur de Paiva, Rua João de Azevedo Coutinho, Rua Aires de Ornelas (der, wie wir wissen, ein angesehener Bewunderer der politischen Ideen von Charles Maurras war), Rua Eduardo Galhardo – repräsentieren eine offen rassistische Kultur, die den 25. April überlebt hat. Diese Akteure des Militärs und der Kolonialverwaltung waren für einige der düstersten Kapitel unserer Geschichte verantwortlich. Deshalb ist die Bewahrung ihrer Namen auf den Straßenschildern Lissabons (über die Materialität der Ortsnamen) eine Form symbolischer Bestätigung der kolonialen Eroberung und Beherrschung. Es ist wichtig andererseits nicht zu vergessen, dass die portugiesischen Namen in den afrikanischen Kolonien immer ein politisches Instrument darstellten, das von den städtischen Behörden dazu benutzt wurde, um unsere Präsenz in diesen Territorien zu etablieren und zu stärken. Dies zeigt uns die Beschaffenheit des kolonialen Erbes, die grobkörnige Materialität der Botschaften von Orts- und Straßennamen.

Und auf welche Weise können Ihrer Meinung nach diese Straßen und ihre Namen erinnert oder dekolonialisiert werden?

Meiner Meinung nach sollten diese Namen aus dem portugiesischen Straßenbild verschwinden. Sollte dies nicht geschehen, glaube ich, dass Gedenktafeln ein Gegengewicht zu ihrer Präsenz schaffen sollten, die auf das Leiden der afrikanischen Bevölkerung verweisen, insbesondere auf diejenigen, die im Rahmen dieser Eroberungen ermordet wurden. Vielleicht ein Mahnmal, ein Wandbild oder eine Statue für die unbekannten Opfer der kolonialen Gewalt oder etwas, das ein anderes Erbe einfordert: Das Erbe der antikolonialistischen Kämpfe. Möglicherweise könnte man einen Raum der Stadt Lissabon in diesem Viertel für eine Ausstellung organisieren, die die Geschichten kontextualisiert, einrahmt und erklärt, die mit diesen Namen von Akteuren des Militärs und von Eroberern verbunden sind.

Wurde aus Ihrer Sicht die Erinnerungspolitik der Stadt angemessen diskutiert?

Nicht wirklich. Umso mehr als in der Diskussion rund um das unglückliche, nun Museu da Descoberta (Museum der Entdeckung) genannte Museum die kolonialen Bezeichnungen, besonders die explizit rassistischen, nie als Priorität oder Voraussetzung für die museologischen Fragen gesehen wurden. Zu jener Zeit habe ich, um die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit zu lenken, über diese Namen zu diskutieren, noch bevor wir an irgendein Museum denken, am 17. Mai 2018 einen langen Artikel in der Zeitschrift Sábado veröffentlicht mit dem Titel Toponímia Colonial: As Homenagens Urbanas a Nomes do Ultramar (Koloniale Orts- und Straßennamen: Städtische Würdigungen der Namen von Übersee). Solange wir diese Diskussion nicht führen, vermitteln wir weiter eine Idee des Ruhms des kolonialen Imperiums und reproduzieren so die lusotropikale Legende der Ausnahme des portugiesischen Kolonialismus und schreiben sie in die historische Erinnerung Portugals ein.

Übersetzung: Bettina Wind

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Fußnoten

[1] Karte von 1885 mit Portugals Landansprüchen über die Gebiete zwischen Angola und Mosambik. [Anm. d. Übers. Bettina Wind].