Prof. Dr. Louis Henri Seukwa

© Paula Markert, Arbeitsstelle Migration der HAW Hamburg

Prof. Dr. Louis Henri Seukwa
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„Kolonialnostalgische Orte stellen zunehmend eine nicht hinnehmbare Provokation dar.“

interview: anke schwarzer, 2021

Welche Orte und Räume in Hamburg kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die koloniale Geschichte und Gegenwart denken?

 

Ich kann schildern, was ich wahrgenommen habe, als ich 2001 nach Hamburg gekommen bin. Im selben Jahr habe ich auf einem Spaziergang in Richtung HafenCity das sogenannte „Afrikahaus“ in der Großen Reichenstraße entdeckt. Wegen seiner Fassade erregte es gleich meine Aufmerksamkeit: Elefanten und Menschen, die sichtbar aus dem afrikanischen Kontinent stammen, als Krieger mit Speer und verschiedene Waren – und daneben, an einem Tisch, weiße Männer, wohl Geschäftsleute, die schick angezogen am Essen waren. Ich habe dann den goldenen Schriftzug gesehen: Woermann. Der Name hat mich sofort an Dinge erinnert, die ich in meiner Schulzeit in Kamerun gelernt habe, als es um die Geschichte Kameruns ging und wie Kamerun überhaupt als Land in seiner aktuellen Gestalt geformt und in das Weltsystem einbezogen, heute würde man sagen, globalisiert wurde. 
Kamerun war nicht im juristischen Sinne des Begriffs eine deutsche Kolonie. 1884 gab es einen sogenannten „Schutzvertrag“ und zwar mit der Woermann-Kompanie. Dieser Vertrag, der nicht mit rechten Dingen zustande gekommen war, wurde von den Chiefs, unter anderem von König Bell, unterzeichnet. Sein Enkel, Rudolf Douala Manga Bell, der vertragstreu war und sich für die Unabhängigkeit Kameruns einsetzte, nachdem die im Vertrag vorgesehene Schutz- und Ausbeutezeit zu Ende ging, wurde am 8. August 1914 auf grausamste Art und Weise von den Deutschen aufgehängt. Das war für mich die Assoziation mit dem Namen Woermann. Ich wusste nicht, dass Woermann ein Hamburger war, bevor ich hierher kam. Und als ich das Gebäude gesehen habe, war das für mich ein Erlebnis, das mich dazu bewegt hat, mich allmählich mit Hamburgs Verstrickung in den Kolonialismus zu beschäftigen. In diesem Zusammenhang ist mir klar geworden, dass dieses hübsche Hamburg, das sich gerne mit dem Hafen als Tor zur Welt inszeniert, ein Stützpunkt für Kolonialexpeditionen war und somit auch ein Tor zur kolonialen Welt.

Wurde über diese Verknüpfungen informiert? Gab es am Gebäude eine Informationstafel oder eine andere Form der Kontextualisierung für Menschen, die nicht Ihr Hintergrundwissen mitbringen? 

 

Nein, leider nicht. 2001 war ich schon erwachsen genug, um einiges einordnen zu können. Die Fassadenelemente, die ich am „Afrikahaus“ gesehen habe, waren für mich auffallend problematisch. Sie stellten nach meiner Lesart die übliche Repräsentation der Weißen beziehungsweise der Europäer als Herren beziehungsweise Herrscher dar, die in einer Attitüde der Überheblichkeit am pompös dekorierten Tisch sitzen und essen. Währenddessen sind neben ihnen halbnackte sogenannte „Stammeskrieger“ aus Afrika mit Speer und Schild als Wächter der sich vergnügenden weißen Herren postiert. Das war die eine Sache. 

Der andere Punkt war die schon erwähnte Verwicklung von Woermann und seinen Unternehmen in die Ermordung eines der ersten Politiker Kameruns, der als Nationalist und Kämpfer für die Autonomie des Landes bezeichnet werden muss. Was wäre gewesen, wenn er nicht umgebracht worden wäre? Vielleicht wäre Kamerun nicht vom Völkerbund an Frankreich und England als Sieger des Ersten Weltkrieges zur Kolonisierung weitergegeben worden. Dann wäre die Geschichte für dieses heute an den neokolonialen Verhältnissen erstickenden Landes bestimmt anders verlaufen. Das sind die Verknüpfungen für einen Menschen wie mich, der diese Dinge aus der Perspektive derjenigen sieht, die bis heute unter kolonialen Kontinuitäten leiden. Eine der markanten Folge dieser kolonialen Kontinuitäten stellen Migrationsverläufe dar, die viele Menschen aus den kolonialisierten Ländern in die sich für Fremde immer stärker verschließenden Länder des globalen Nordens führen, wo sie unerwünscht und wie verlorene Seelen rastlos herumirren.  

Nicht alle haben die Möglichkeit, diesen Ort so einzuordnen wie Sie. Was denken Sie, sollte an diesem Ort eine Kontextualisierung der Erinnerung, der Markierung stattfinden, beispielsweise für Touristen, für Schulklassen? Sollte die Fassade verändert werden?

 

Auf jeden Fall darf es nicht so bleiben wie es jetzt ist, weil dort kolonialnostalgische Bilder reproduziert werden, die die rassistisch konstruierte Überlegenheit des weißen Mannes unhinterfragt darstellen. Dies hat zur Folge, dass diese Fassade heute in einer kosmopolitisch gewordenen Stadt wie Hamburg nur gespaltene Meinungen hervorrufen kann. Das heißt, diejenigen, die progressiv sind und einen kritischen Blick haben, sind schockiert, dass solche Bilder heute noch unkommentiert bleiben, und die Rechtskonservativen, die ewig Gestrigen freuen sich darüber, dass sich nichts ändert. 

Diese Fassade steht, so wie ich gehört habe, seit den 1970er Jahren unter Denkmalschutz. Wie sie genau verändert werden kann, das ist eine andere Frage, aber so wie sie ist, kann sie meiner Meinung nach nicht bleiben. Sie ist schlechthin verletzend.
Es geht hier jedoch nicht nur um die Gefühle von Menschen sondern auch um die unrühmliche Vergangenheit dieser Stadt. Es geht letztendlich auch um die Versöhnung mit den vielen Menschen, die Dank Globalisierung, Migrationsprozessen und Hybridität sich mit dieser Stadt heute identifizieren, also sich als Hamburger fühlen und sich gleichzeitig auch zu anderen Orten auf dem afrikanischen Kontinent zugehörig fühlen. Für solche Menschen mit Mehrfachzugehörigkeit stellen kolonialnostalgische Orte zunehmend eine nicht hinnehmbare Provokation dar! Deshalb denke ich, dass man im Sinne der Versöhnung, und auch um unserer moralischen Glaubwürdigkeit wegen, mit solchen Dingen anders umgehen sollte, als einfach solche Argumente des Denkmalschutzes vorzuschieben. Man stellt ja auch nicht eindeutig sichtbare Zeichen des Nationalsozialismus unter Denkmalschutz, wie etwa ein Gebäude mit einem Hakenkreuz. Das würde nicht passieren, denn man weiß genau, dass damit eine verbrecherische Geschichte verbunden ist, eine Geschichte, die das Land und diese Stadt nicht groß macht. Aber was das „Afrikahaus“ angeht, kann man damit anscheinend so lapidar umgehen. 

Was sollte Ihrer Ansicht nach mit dieser Fassade und dem Standbild passieren? Sollte es verändert oder entfernt werden? Und wie könnte der Prozess dieser Veränderung gestaltet werden?

 

Solche Gegenstände sind im Wortsinn herausfordernd. Sie stellen wie schon erwähnt zwar ein Problem dar, aber zugleich bergen sie das Potential, aus einer negativ beladenen Vergangenheit die Zukunft positiv zu gestalten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie eine politische und pädagogische Rolle spielen können. Das heißt, dass durch die öffentliche Auseinandersetzung die Geschichte, die damit verknüpft ist, klar wird. Und auch die Frage, wie der Gegenstand transformiert oder ergänzt werden sollte, muss genau das sein, worum es in einem solchen politischen und pädagogischen Prozess gehen sollte. Ich bin nicht der Meinung, dass man alles ausradieren sollte. Dann ist die Geschichte verschwunden – und ich glaube das wäre zu einfach und auch nicht nützlich. 

„Es geht in der Auseinandersetzung nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, diesen Ort zu nutzen, um die Bevölkerung dieser Stadt damit zu konfrontieren, was Kolonialismus eigentlich ist, und was er für Hamburg heute noch bedeutet.“

Damit können Themen, die mit Kolonialismus verknüpft sind und die uns heute noch sehr beschäftigen, wie etwa Rassismus, globale Ungleichheiten, Flucht und erzwungene Migration, benannt werden. Die Frage, wer Woermann war, was er dafür getan hat, dass Deutschland zur Kolonialmacht wurde, was die Rolle der Handelskammer, der Hamburger Kaufleute dabei war und was Kolonialismus zum Reichtum Hamburgs beigetragen hat – zu diesen Themen kann man anhand einer solchen Fassade Veranstaltungen machen. Mein Plädoyer ist, diese Orte als Orte der öffentlichen Bildung zu nutzten. Das scheint mir viel wichtiger und dringender zu sein als die konkrete Veränderung, die am Gegenstand selbst stattfinden sollte, weil dadurch Menschen lernen können. Das heißt, die pädagogische Funktion dieser Orte und die Frage wie diese Funktion zufriedenstellend erfüllt werden kann, muss in den Vordergrund gerückt werden. 

Welche anderen Orte in Hamburg bringen Sie in Verbindung mit Kolonialismus?

 

Da fällt mir die Deutsche Seemannsmission ein. Ich habe sie in meinen frühen Jahren in Hamburg zufälligerweise beim Spaziergang in Altona, in der Elbstraße, entdeckt – dank ihres Logos, das einem Steuerrad ähnelt. Weil ich kaum Kenntnisse der deutschen Sprache hatte, sagte mir der Name Seemannsmission auch nichts. Aber das Logo der Organisation war mir wohlvertraut, denn ich hatte es am Le Foyer des Marins in Duala in Kamerun, wo ich öfter war, schon gesehen. Le Foyer des Marins ist ein mittelklassiges Hotel in der Nähe des Hafens mit einem großen Biergarten. Es liegt auf einer Anhöhe, von der aus man alles, was im Hafen passiert, sehen kann. Ich habe dort Ende der 1980er Jahre öfter deutsche Missionare der evangelischen Kirche getroffen sowie Matrosen aus aller Welt. In der Seemannsmission Duala habe ich zum Beispiel das erste Mal das Oktoberfest erlebt und war sehr erstaunt über die beeindruckende Menge von Bier, die die Deutschen, die dort gefeiert haben, an einem Abend trinken konnten. Ein in unserem Zusammenhang für mich bemerkenswertes Erlebnis an diesem Ort war ein zufälliges Gespräch mit einem Pastor, der als Kommentar zu meinem Erstaunen über den hohen Bierkonsum sagte, dass die Deutschen viele afrikanische Staaten mit Alkohol erobert hätten. Aus Verlegenheit lachte ich etwas. Er fuhr fort und sagte, nicht mehr ganz nüchtern und in gebrochenem Französisch: „Lach nicht darüber, Alkohol hat euch erst zum Knecht gemacht.“ Das hat mich wütend gemacht, aber auch nachdenklich. Als ich Jahre später nach Hamburg kam und die Seemannsmission hier sah, war plötzlich die Erinnerung an diese Situation wieder wach und damit auch meine Neugier, mehr über die Rolle Hamburgs und die einiger hier ansässiger Organisationen im deutschen Kolonialismus zu erfahren. 

Ich habe sehr schnell einen weiteren Ort gefunden, das Völkerkundemuseum, das mittlerweile umbenannt wurde und jetzt Museum am Rothenbaum heißt. Dort findet man sehr schnell Objekte, die aus Gebieten in Kamerun kommen, die ich gut kenne. Damals habe ich mich en passant nach den Erwerbsmethoden und nach Raubkunst erkundigt, aber ich erhielt nur ein Lächeln als Antwort. Ich habe dann nicht weiter nachgefragt. Ich wollte kein Querulant sein. Zu dem Zeitpunkt gab es in Deutschland kaum eine öffentliche Diskussion über Restitution von Kunstobjekten aus dem kolonialen Kontext, wie es heute der Fall ist. Es war mir also bewusst, dass es wenig oder nichts bringen würde, einen Streit in einem solchen Kontext anzustiften.