Vom Kolonialinstitut zur Universität

© Nicole Benewaah Gehle

Vom Kolonialinstitut zur Universität +

„Reisende sollten unterstützt werden – nicht belästigt oder gar bedroht!“

Anette Hoffmann
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Der somalische Intellektuelle Mohamed Nur (1891- o.D.) kam 1910 mit einem Völkerschau-Ensemble nach Deutschland, war Zivilgefangener im Ersten Weltkrieg, stand Modell für den Maler Max Slevogt und war von 1917-1921 Sprachassistent am Hamburger Institut für Kolonialsprachen.

Mohamed Nur wurde 1910 in Aden als Lehrer für die Kinder des Ensembles einer Völkerschau im Lunapark in Berlin angeworben. Aus seinen biografischen Angaben in einer Publikation zur Lautlehre des Somali (von Tiling 1925) geht hervor, dass er sich bald mit dem Betreiber der Völkerschau überwarf, weil er nicht willens war, an exotisierenden Schautänzen teilzunehmen. Sein Leben in Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war äußerst prekär: er reiste mit verschiedenen Ensembles, wurde betrogen und ausgeraubt, sprach anfangs wenig deutsch. Mittellos und ohne Pass wandte er sich an das englische Konsulat in Hamburg doch seine Staatsbürgerschaft der Kolonie British Somaliland wurde nicht anerkannt. Ohne Ausweis war es ihm nicht möglich, Arbeit zu finden. 

Vielleicht verdingte er sich in dieser Zeit als Modell für Max Slevogt, der ihn mehrfach malte und zeichnete. Slevogts Abbildungen verwandelten den muslimischen Intellektuellen unter dem Pseudonym „Hassano“ in einen verkleideten oder nackten Wilden. Als Requisiten der Inszenierung dienten wahlweise Speer, Lendenschurz und Leopardenfell. Die insgesamt zwölf Gemälde und Zeichnungen hat der internationale Kunstmarkt verstreut, nur zwei Gemälde finden sich im Museum Kunstpalast in Düsseldorf. Eine Gemälde Slevogts, das ganz in braun gehalten ist und Nur als „Hockenden mit Speer“ darstellt, hängt in der Wohnung eines privaten Besitzers in Deutschland. Über Mohamed Nur, der für diese Bilder Modell stand, war auch im Museum Kunstpalast bis vor kurzem nichts bekannt.

Von der Völkerschau ins Gefangenenlager

Den größten Teil des Krieges überstand Mohamed Nur im sogenannten Engländerlager in Berlin Ruhleben, wo er während des Krieges interniert war. Hier wurde er zusammen mit weiteren Schwarzen Insassen der Baracke 13 von einem Fotografen für die Berliner Illustrationsgesellschaft abgebildet. Im gleichen Lager wurde seine Stimme von den Linguisten der Königlich Preußischen Phonographischen Kommission aufgenommen. Seine Zeilen vom Hunger, der seinen Körper biegt (siehe Film) widersprechen der propagandistischen Fotografie, die ein Gruppenbild von Gefangenen mit Nahrungsmitteln und Musikinstrumenten inszenierte (Abb.6). Die Kommission nutzte die Internierung tausender Kriegsgefangener und Zivilgefangener zur Erstellung von Sprachaufnahmen, die heute am Berliner Lautarchiv und im Phonogramm-Archiv Berlin aufbewahrt werden (Hilden 2021; Hoffmann 2020a, 2020b, 2015; Lange 2020).

Gruppenfoto aus dem sog. Engländerlager Ruhleben,  undatiert © A. Grohs, Havard Law School, Maurice Ettinghausen Collection

Erst die Übersetzungen des somalisch-schwedischen Historikers Bodhari Warsame (2013) förderten aus den Sprachaufnahme mit Mohamed Nur Fragmente seiner Auseinandersetzung mit dem Derwish Movement im damaligen British Somaliland zutage. Das Dervish Movement als erste klanübergreifende, religiös geprägte und militante Bewegung im damaligen British Somaliland (1899-1920), richtete sich auch gegen die italienischen und brititischen Besatzungsmächte. In den Aufnahmen kritisiert Nur den Kopf der Bewegung, den Dichter Mohamed Cabdille Hassan. Nur hatte die Ausschreitungen der Truppen des Derwish Movements in der Region Berbera miterlebt.

Eine als „Spottlied auf den tollen Mollah“ registrierte Aufnahme im Berliner Lautarchiv hat sich in der Übersetzung von Bodhari Warsame als Fragment einer verbal ausgetragenen historischen Kontroverse zwischen Cabdille Hassan und seinem politischen Widersacher Ali Jamaa Haabiil erwiesen. Die Komplexität der von Nur dargebotenen Textgenres verlangt oft weit mehr als eine wörtliche Übersetzung, um verständlich zu werden (Samatar 1982). Nurs Nebenrolle im Konflikt des Derwisch Movement mit den Kolonialmächten am Horn von Afrika war der Grund für seine überstürzte Abreise aus Aden: Er ließ sich für eine Völkerschau anwerben um das Land zu verlassen, weil er sich – vielleicht ohne die politische Dimension ganz zu überschauen –  im Jahr 1909 einer Kampagne gegen Cabdille Hassan angeschlossen hatte, in die sowohl die englische als auch die italienische Kolonialmacht verwickelt waren. 

© Anette Hoffmann, Auszug aus Der Krieg und die Grammatik. Ton- und Bildspuren aus dem Kolonialarchiv, kuratiert von Anette Hoffmann. Die darin enthaltenen Tonaufnahmen: Lautarchiv Berlin, Übersetzung: Bodhari Warsame. 

Vom Gefangenenlager ans Hamburger Institut für Kolonialsprachen 

Während der Aufnahmetätigkeit der Kommission war Nur zusammen mit dem Ewe Sprecher Stephan Bischoff vom Afrikanisten Carl Meinhof im Lager Ruhleben als Sprachassistent für das damalige Hamburger Institut für Kolonialsprachen angeworben worden. Dort arbeitete er ab November 1917, nachdem er auf Ersuchen Meinhofs vorzeitig aus der Gefangenschaft entlassen worden war. 

Maria von Tilings Dissertation zum Somali aus dem Jahr 1925, sowie eine Reihe ihrer Veröffentlichungen basieren auf ihrer Zusammenarbeit mit Nur, der neben Somali auch Arabisch, Deutsch und Englisch sprach. Aufgrund der kolonialen Machtverhältnisse wurde Nur allerdings nicht als Co-Autor dieser linguistischen Abhandlungen gewürdigt. Nurs Personalakte am Hamburger Institut für Kolonialsprachen macht deutlich, dass er sich auch in der Hansestadt, nun als Sprachassistent, immer wieder gegen Ungleichbehandlung und rassistische Übergriffe zur Wehr setzen musste: Am Institut konnte er bald eine bessere Bezahlung seiner Arbeit erzwingen. Im Februar 1919 wurde er von einem Straßenbahnfahrer zuerst nicht befördert, obwohl nicht alle Plätze besetzt waren. 

Als er protestierte und versuchte die Beförderung zu erzwingen, attackierte ihn der Fahrer mit Schlägen und Tritten. Wenig später schrieb Nur einen sehr detaillierten Beschwerdebrief an die Straßeneisenbahngesellschaft Hamburg. Mithilfe der ebenfalls schriftlichen Zeugenaussage des Passanten Alfred Elbholz konnte Nur eine förmliche Entschuldigung des Schaffners, sowie die Zahlung einer Entschädigung erzwingen (Staatsarchiv Hamburg, Personalakte Mohamed Nur). 1921 schien Nur die Anstellung am Institut aufgegeben zu haben. Ob er nach Somalia zurückgekehrt war, ist bisher unbekannt.

„Reisende“, singt er in einer der Aufnahmen der Kommission, „sollten unterstützt werden, und nicht belästigt oder gar bedroht!“ Er hatte in Deutschland das Gegenteil erlebt. 

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Bibliografie

Hilden, Irene (2021) „Collective Listenening. Tracing Coloninial Sounds in Postcolonial Berlin“ in Kylie Crane et al (Hgg.) The Minor on the Move: Doing Cosmopolitanisms, 200-223 Münster: edition assemblages.

Hoffmann, Anette (2020a) „War and Grammar: Acoustic Recordings with African Prisoners of the First World War (1915-18)“ in: A. Deumert, N. Sheperd & A. Storch (Hgg). Colonial and Decolonial Linguistics. Knowledges and Epistemes, 105-128. Oxford: Oxford University Press

Hoffmann, Anette (2020b) Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in Tondokumenten aus dem südlichen Afrika. Wien: Mandelbaum Verlag. 

Hoffmann, Anette (2014) „Echoes of the Great War: The Recordings of African Prisoners in the First World War“ in: Open Arts Journal 3, 9-23.

Lange, Britta (2020) Gefangene Stimmen. Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918. Berlin: Kadmos Verlag.

Samatar, Said (1982) Oral Poetry and Somali Nationalism. The Case of Sayyid Mahammad Abdille Hassan. Cambridge: Cambridge UniversityPress

Maria von Tiling (1925) Somali-Texte und Untersuchungen zur Somali Lautlehre. Achtes Beiheft zur Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen. Berlin: Reimer Verlag.


Zuletzt geändert am: 24/04/2024 19:27:09